Predigt von Nuntius Eterovic am 1. Adventssonntag
Berlin, 2. Dezember 2018
(Jer 33,14-16; Ps 25; 1 Thess 3,12-4,2; Lk 21,25-28.34-36)
„Richtet euch auf und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe.“ (Lk 21,28).
Liebe Schwestern und Brüder!
Mit diesem ersten Adventssonntag beginnt das neue Kirchenjahr. Bei der Reflexion über die Geheimnisse des Lebens Jesu wird uns besonders der Evangelist Lukas führen. Es ist bekannt, daß der Advent der erste Teil des liturgischen Jahres ist. Er besteht aus etwa vier Wochen, in denen die Kirche uns zur Vorbereitung auf das Weihnachtsfest einlädt. Wir müssen uns immer der beiden Wahrheiten unseres Glaubens bewußt bleiben: das christliche Leben ist ein Weg zur Begegnung mit dem Herrn Jesus. Die Kirche, deren Glieder wir sind, ist die Braut, die ihren Bräutigam Jesus erwartet.
Somit kommen wir zum Thema der Erwartung, des Wartens, das den Advent bestimmt. Auch in unserer heutigen Überlegung wollen wir beim Warten in einer dreifachen Dimension verweilen. Wir werden kurz über die Erwartung der Menschheit nachdenken (I) und die des auserwählten Volkes Israels (II) und sodann der Kirche, das heißt die Erwartung von uns Christen (III). Bei dieser Reflexion werden uns auch die heutigen Lesungen helfen, die vom zweifachen Kommen des Herren sprechen: dem ersten in Bethlehem in der Weihnachtsnacht und dem zweiten am Ende der Geschichte. Beide Ereignisse drängen uns, die Dimension des Wartens auf die Begegnung mit unserem Herrn und Heiland zu erneuern.
1. Die Erwartung der Menschheit.
Die kurze Zeit des Advents, der etwa vier Wochen umfaßt, erinnert an die lange Zeit des Menschengeschlechts, das sich nach dem Sündenfall der Stammeltern von Gott entfernt und sich dennoch ein gewisses Sehnen nach Gott bewahrt hat. Es handelt sich um ein Bedürfnis, das in der Natur der menschlichen Person liegt, nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen zu sein (vgl. Gen 2,26). Dieses Sehnen war die Grundlage des Wartens auf die Begegnung mit dem Göttlichen, mit Gott oder seinem Gesandten, womit der Mensch erleuchtet werden konnte und sich der Sinn des Lebens und des Kosmos erschloss. Anzeichen dieses Sehnen sind verwurzelt in der Erfahrung der Menschen und lassen sich mit ihren Symbolen, Erzählungen und literarischen Zeugnissen und besonders anhand der heiligen Büchern ihrer religiösen Traditionen entziffern. In unserer westlichen Tradition kennen wir die Sybillen, die mit prophetischer Gabe ausgestattete Jungfrauen, die von einem Gott inspiriert in der Lage waren, auch Antworten zu geben und Vorhersagen zu treffen. Diese Figuren entstammen der volkstümlichen griechischen Welt und wurden in gewisser Weise auch in der christlichen Welt akzeptiert, was unter anderem die Freskomalereien Michelangelos bezeugen, der fünf Sybillen an die Decke der Sixtinischen Kapelle gemalt und sie zwischen die Propheten des Alten Testaments platziert hat. Tatsächlich haben die christlichen Apologeten die sybillinischen Orakel als Voraussage der christlichen Geschichte interpretiert.
2. Die Erwartung Israels.
Die Geschichte Israels, des erwählten Volkes, ist vom Warten auf die Geburt des Messias charakterisiert. In dieser Zeit des Advents stellt uns die Kirche mit den liturgischen Lesungen eine Fülle dieser Erfahrungen zur Verfügung. Es genügt an die heutige erste Lesung zu erinnern: „Siehe, Tage kommen - Spruch des HERRN -, da erfülle ich das Heilswort, das ich über das Haus Israel und über das Haus Juda gesprochen habe“ (Jer 33,14). Die Ankündigung der Ankunft des Messias setzt die Erwartung und die Vorbereitung voraus, ihn zu erkennen und zu empfangen. Auf diese Weise sollten die Juden Anteil an der Gerechtigkeit und dem Frieden erhalten, was der Messias mit sich bringt. Beim Propheten Jeremia lesen wir: „Er wird Recht und Gerechtigkeit wirken im Land“ (Jer 33,15) und dann: „In jenen Tagen wird Juda gerettet werden, Jerusalem kann in Sicherheit wohnen“ (Jer 33,16).
Die Erwartung hat zugleich einen personalen wie gemeinschaftlichen Aspekt. Das bringt gut der Verfasser des 130. Psalms zum Ausdruck, wo es heißt: „Ich hoffe auf den HERRN, es hofft meine Seele, ich warte auf sein Wort. Meine Seele wartet auf meinen Herrn mehr als Wächter auf den Morgen, ja, mehr als Wächter auf den Morgen“ (Ps 130,5-6). In der Folge wird das Warten des erwählten Volkes beschrieben: „Israel, warte auf den HERRN, denn beim HERRN ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle“ (Ps 130,7).
3. Die Erwartung der Christen.
In der Zeit des Advents warten wir Christen auf das Kommen dessen, der schon in die Geschichte gekommen ist, auf Gott, der Fleisch geworden ist vor fast 2.000 Jahren in der Grotte bei Bethlehem. Wir wissen, daß der auferstandene Herr Jesus immer unter uns durch sein Wort, die Sakramente, vor allem in der Eucharistie, und in den Werken der Nächstenliebe gegenwärtig ist. Daher müssen wir uns geistlich darauf vorbereiten, ihm möglichst oft zu begegnen, jeden Tag. In der Zeit des Advents lädt uns die Kirche zu einer ganz eigenen Vorbereitung ein, die von brennender Erwartung gekennzeichnet ist. Die bereits erwähnten Erwartungen der Menschen im Allgemeinen und die der Juden können dabei eine große Hilfe sein. Die Erwartung der Nichtchristen erschließt sich uns beispielsweise durch die Missionare. Sie begegnen Menschen, die noch nie etwas von Jesus Christus gehört haben und sein Evangelium des Heils nicht kennen. Gerade sie erwarten diese Ankündigung der Begegnung mit einer Person, mit einem Erlöser besonders, der sie von Sünden und von der Angst vor den bösen Geistern befreien kann und ihnen die Sicherheit des ewigen Lebens gewährt. Aus diesem Grund lassen sich viele mit Freude taufen und nehmen den christlichen Glauben an. Die Erfahrung der Juden sodann ist lebensspendend für das christliche Leben, vor allem in der Zeit des Advents. Über die Erwartung des ganzen Volkes Israels hinaus werden wir in dieser Gnadenzeit die zentralen Figuren des Alten Testamentes betrachten, die den Weg des Herrn bereitet haben: Johannes der Täufer, der Heilige Joseph und besonders die selige Jungfrau Maria.
Auch das zweite Kommen des Herrn in Herrlichkeit, wo er die Lebenden und die Toten richten wird, sollte uns helfen, diese Zeit der Erwartung auf Kommen des Messias im Fleisch gut zu leben. Diese Ankunft mahnt uns besonders, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die am Himmel erscheinen und auf Erden geschehen (vgl. Lk 21,25-28) und uns nicht in Schrecken versetzen, sondern uns gemäß den Worten des Herrn mit Freude erfüllen: „Wenn dies beginnt, dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe“ (Lk 21,28). Jesus Christus lädt uns außerdem ein, uns geistlich auf die Begegnung mit ihm vorzubereiten: „Nehmt euch in Acht, dass Rausch und Trunkenheit und die Sorgen des Alltags euer Herz nicht beschweren und dass jener Tag euch nicht plötzlich überrascht“ (Lk 21,34). Er ermahnt uns auch, wachsam zu sein und zu beten: „Wacht und betet allezeit, damit ihr allem, was geschehen wird, entrinnen und vor den Menschensohn hintreten könnt“ (Lk 21,36).
Liebe Brüder und Schwestern, vertrauen wir unsere Überlegungen der Fürsprache der seligen Jungfrau Maria an, der Mutter in freudiger Erwartung, damit sie auf uns die Gnade des Heiligen Geistes erflehe. Dann können wir diesen Advent in rechter Weise leben, die Erwartung des Kommens Jesu Christi in der Freude, in der Reinheit des Herzens, in der Unterscheidung der Zeichen der Zeit, im Gebet und Wachen. Auf diese Weise werden wir unseren Glauben an das Wort des Herrn, der kommt, zum Ausdruck bringen: „Richtet euch auf und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe“ (Lk 21,28). Amen.