Predigt von Nuntius Eterovic am 25. Sonntag im Jahreskreis
Apostolische Nuntiatur, 20. September 2020
(Jes 55,6-9; Ps 145; Phil 1,20-27; Mt 20,1-16)
„So werden die Letzten Erste sein und die Ersten Letzte“ (Mt 20,16).
Liebe Schwestern und Brüder!
Der Satz, mit dem der Herr Jesus das Gleichnis vom Lohn für die Arbeiter beschließt, ist für uns alle sehr bedeutsam. Das zeigt unter anderem die Situation der Mitglieder des erwählten Volkes, die als erste den Ruf von JHWH empfingen. Die Mehrheit von ihnen hat Jesus Christus, das Wort, das Fleisch geworden ist (vgl. Joh 1,14), nicht angenommen, woraufhin die Apostel begonnen hatten, den Heidenvölkern zu predigen, die dankbar und mit Freude das Wort Gottes aufnahmen (vgl. Apg 13,44-52). Der Heilige Paulus hat unter dieser Wirklichkeit gelitten, jedoch hat er die Hoffnung nicht aufgeben, die Haltung seines jüdischen Volkes könne sich verändern. Im Brief an die Gemeinde in Rom schreibt er: „Euch aber, den Heiden, sage ich: Gerade als Apostel der Heiden preise ich meinen Dienst, weil ich hoffe, die Angehörigen meines Volkes eifersüchtig zu machen und wenigstens einige von ihnen zu retten. Denn wenn schon ihre Zurückweisung für die Welt Versöhnung bedeutet, was wird dann ihre Annahme anderes sein als Leben aus den Toten? Ist aber die Erstlingsgabe vom Teig heilig, so ist es auch der ganze Teig; und ist die Wurzel heilig, so sind es auch die Zweige“ (Röm 11,13-16).
Voller Dankbarkeit gegenüber Gott und seinem Ruf, Anteil an seinem Reich und Glieder seiner Heiligen Kirche zu sein, wollen wir gemeinsam die weiteren Aspekte des heutigen Evangeliums betrachten. Insbesondere bedenken wir den Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit (I) und Barmherzigkeit (II) gemäß der Lehre Jesu. Er setzt die Worte des Propheten Jesaja über die Vergebung und die Barmherzigkeit Gottes in die Tat um und macht durch seine Vorgehensweise deutlich, dass damit das Denken Gottes charakterisiert ist. Um die Bedeutung des eben verkündeten Evangeliums gut zu verstehen, müssen wir uns bewußt bleiben: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege - Spruch des HERRN. So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken“ (Jes 55,8-9).
1. „Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart?“ (Mt 20,13)
Das hält der Gutsherr jenen Arbeitern vor, die murrten, weil sie den ganzen Tag gearbeitet hatten, jedoch den gleichen Lohn erhielten wie jene, die weniger gearbeitet hatten, manche sogar nur eine Stunde, was bei jenen Arbeitern der Fall war, die der Gutsherr noch um die elfte Stunde angeworben hatte. Der Gutsherr erinnerte zurecht daran, dass er den geschlossenen Vertrag einhielt. Am frühen Morgen berief er Arbeiter in seinen Weinberg und „vereinbarte mit ihnen einen Denar“ (Mt 20,2). Der Patron handelte richtig und im Einklang mit einer strikten Verteilungsgerechtigkeit. Dieses Prinzip ist für die Beziehungen von Menschen wichtig, vor allem zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Leider gibt es viele schlechte Arbeitgeber, die sich übel verhalten und die Arbeiter ausnutzen oder ihnen sogar den Lohn vorenthalten. Die Katholische Kirche hat stets eine solche Ungerechtigkeit verurteilt und diese zu jenen vier Sünden gezählt, die zum Himmel schreien, nämlich jene himmelschreiende Sünde von der „den Arbeitern vorenthaltenen Lohn“ (Katechismus der Katholischen Kirche 1867). Die Achtung vor der Lohngerechtigkeit ist auch heute noch sehr aktuell, vor allem in Zeiten einer ökonomischen Krise, wie sie heute durch Corona-Pandemie verursacht wird. Eine der goldenen Regeln ist jene über die Verteilung der Güter im Sinne der Solidarität und der gerechten Güterverteilung, so daß niemandem das Nötige zum würdigen Leben fehlt.
2. „Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin?“ (Mt 20,15)
Jesus Christus wollte zeigen, dass Gottes Handeln nicht gleich dem Tun von Menschen ist. Gott überragt die menschliche Gerechtigkeit mit der Fülle seines Erbarmens. Darum wird im Gleichnis die Ordnung der Entlohnung der Arbeiter auf den Kopf gestellt und fängt mit den Letzten an, denen ebenso wie den Ersten ein Denar gezahlt wird, auch wenn jene Ersten die Last des Tages und die Hitze zu ertragen hatten (vgl. Mt 20,12). Den Vorwürfen der Arbeiter der ersten Stunde entgegnet der Gutsherr, sie seien gerecht behandelt worden, da sie das bekommen haben, was vereinbart war. Sogleich jedoch fügt er an, es sei sein Wille, auch den Letzten ebenso viel zu geben wie jenen (vgl. Mt 20,14). Der Patron zeigt zwei Aspekte seines Handelns: Als erstes jener objektive Aspekte, dass er mit dem, was ihm gehört, machen kann, was er will. Sodann der subjektive Aspekt, indem er sich an den wendet, der murrt, und ihn fragt: „Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin?“ (Mt 20,15).
Wir müssen zunächst erkennen, dass auch wir auf den ersten Blick den Arbeitern der ersten Stunde gleichen und wir überrascht werden von den Kriterien des Gutsherren im Gleichnis, mit dem unser Vater im Himmel gemeint ist. Darum müssen wir den Horizont unseres Herzens erweitern und uns der Gnade Gottes öffnen, die Er jedem nicht nach seinen Verdiensten geben will, sondern nach dessen Bedürfnissen. Wir können uns vorstellen, dass der Gutsherr die Arbeiter der letzten Stunde kannte und wusste, auch sie hatten eine Familie zu unterhalten und waren daher darauf angewiesen, den Lohn von einem Denar für die Arbeit eines ganzen Tages zu bekommen. Darum gehen die Gedanken Gottes dahin, dass auch die Arbeiter, die weniger gearbeitet haben, das Notwendige zum Überleben nötig haben.
Mit dieser Sichtweise erfassen wir die barmherzige Grundhaltung des Gutsbesitzers. Er lässt uns die Wahrheit über unsere Natur und die unseres Gottes erkennen, der „ein barmherziger und gnädiger Gott“ ist, „langmütig und reich an Huld und Treue“ (Ex 34,6). Als Jünger Jesu Christi sind auch wir dazu gerufen, dem Beispiel zu folgen und eine reine Verteilungsgerechtigkeit zu überwinden und dem Nächsten und vor allem den Hilfsbedürftigen gegenüber immer mehr barmherzig und großzügig zu sein. Gott sei Dank hat das Evangelium in guter Weise auch unsere Gesellschaften beeinflusst, die sich in besonderer Weise derer annehmen, die arm, behindert, krank oder geflüchtet sind. Sie erhalten beispielsweise soziale Unterstützung, einen Mindestlohn, Sozialversicherungen und Finanzhilfen, auch wenn sie nicht arbeiten, nicht arbeiten können oder keine Arbeit finden. Mit Blick auf diese Menschen ist eine strenge Gerechtigkeit zugunsten der Solidarität und der Barmherzigkeit überwunden. Darüber hinaus wächst immer mehr die Einsicht, dass die reichen Länder den ärmeren helfen müssen. Dabei handelt es sich nicht allein um eine moralische Pflicht ehemaliger Kolonialmächte, sondern um das gemeinsame Bewußtsein darüber, dass wir alle Geschwister sind und dass die weiter entwickelten Nationen denen helfen sollen, die Hilfe bei ihrer Entwicklung brauchen. Nicht allein durch deren Beistand soll dies geschehen, sondern unter Bedingungen, die es diesen Ländern erlaubt, sich in eigenständiger Weise dank der Bildung und der qualifizierten Ausbildung ihrer Menschen und der Verfügung über angemessene Produktionsmittel entwickeln zu können. Ein wichtiger Schritt in diesem Prozess wäre ein Schuldenschnitt für jene Länder.
„So werden die Letzten Erste sein und die Ersten Letzte“ (Mt 20,16). Liebe Brüder und Schwestern, diese Worte haben sich in exemplarischer Weise im Leben der seligen Jungfrau Maria verwirklicht, der demütigen Magd des Herrn (vgl. Lk 1,48). Gott hat Maria aus Nazareth, jenem kleinen Ort in Galiläa, erwählt, die Mutter Jesu zu werden, seines Eingeborenen Sohnes. Auf diese Weise hat er Herr Maria über jede Frau in Israel und der Welt erhöht und ihr einen der vordersten Plätze in der Heilsgeschichte eingeräumt. Auf ihre mächtige Fürsprache hin erflehen wir die Gnade des Heiligen Geistes nicht nur dafür, immer besser die Verteilungsgerechtigkeit dem Nächsten gegenüber zu üben, sondern um sich über die Barmherzigkeit Gottes zu freuen, der einem jeden schenken will, was er braucht. Wir preisen Gott insbesondere für seinen universalen Heilswillen (vgl. 1 Tim 2,4), wo die Letzten als Erste in sein Reich treten. Amen.