Predigt von Nuntius Eterovic am 27. Sonntag im Jahreskreis

Apostolische Nuntiatur, 4. Oktober 2020

(Jes 5,1-7; Ps 80; Phil 4,6-9; Mt 21,33-43)

„Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden“ (Mt 21,42).

Liebe Schwestern und Brüder!

Das Bild vom Weinberg wird in der Bibel häufig gebraucht. Über einhundertmal kommt es im Alten und Neuen Testament vor. Die Lesungen dieses 27. Sonntags im Jahreskreis machen davon reichlich Gebrauch. Das Klima und die Bodenbeschaffenheit im Heiligen Land, vor allem in Galiläa, waren und sind für Weinanbau geeignet. Es war für Jesus also nicht schwer, seinen Zeitgenossen zu erklären, wie die Reben gepflanzt und gepflegt werden müssen, um reiche Frucht zu bringen. Sie konnten das rasch verstehen. Steiniger Boden eignet sich gut für eine solche Bepflanzung. Die Steine dienten zur Errichtung von Mauern, um die Weinberge vor Räubern und wilden Tieren zu schützen (vgl. Ps 80). Bevor die Reben gepflanzt werden konnten, musste der Ort von Steinen gereinigt sein. Wir sind für die Gnade des Heiligen Geistes offen und öffnen so unsere Herzen, um die Botschaft zu verstehen, die Gott an sein Volk richtet (I), wie auch an jene, die er leiten will (II) in der Vorwegnahme des Geheimnisses seines Todes und seiner Auferstehung (III).

1. Der Weinberg des Herrn ist das Haus Israel

Der Prophet Jesaja beschreibt mit dem Bild des Weinbergs die große Liebe JHWH zu seinem erwählten Volk Israel. Diesen Weinberg liebt und pflegt er hingebungsvoll. Die liebende Haltung kannten alle, weswegen JHWH die Bewohner von Jerusalem fragt: „Was hätte es für meinen Weinberg noch zu tun gegeben, das ich ihm nicht getan hätte?“ (Jes 5,4). Daß der Gott Israels angesichts der Situation keine Illusionen hat, zeigt auch die zweite Frage und Aussage: „Warum hoffte ich, dass er Trauben brächte? Und er brachte nur faule Beeren!“ (Jes 5,4). Wegen der Wirklichkeit von Unglaube und Undankbarkeit kündigt JHWH drohend an, er wolle das Gewissen der Israeliten aufrütteln und sie dazu bringen, zu Gott zurückzukehren, zu ihrer ersten Liebe. Leider brachte diese Androhung nicht den erwünschten Erfolg. Israel wurde in die Knechtschaft nach Babylon geführt, und der Weinberg, der von Gott so sorgfältig gepflanzt und gepflegt worden war, wurde verlassen und verwüstet.

2. Er wird den Weinberg anderen Winzern übergeben

Im heutigen Evangelium wendet Jesus das Gleichnis vom Weinberg an, um sich in besonderer Weise an die Führer, Priester und Ältesten des Volkes zu wenden. Sie sind vergleichbar mit jenen Winzern, denen der Gutsbesitzer seinen Weinberg in bestem Zustand anvertraut hatte. Bevor er ihnen diesen nämlich verpachtete, „zog er ringsherum einen Zaun, hob eine Kelter aus und baute einen Turm“ (Mt 21,33). Die Probleme kommen zur Zeit der Ernte. Die Winzer wollten keine der Trauben denen abgeben, die der Patron mehr als einmal geschickt hatte. Im Gegenteil: „Die Winzer packten seine Knechte; den einen prügelten sie, den andern brachten sie um, wieder einen anderen steinigten sie“ (Mt 21,35). Der Gutsbesitzer, der voller Geduld und Güte ist, hat am Ende seinen Sohn geschickt, weil er dachte: „Vor meinem Sohn werden sie Achtung haben“ (Mt 21,37). Die Winzer jedoch beantworteten auch diesen letzten Versuch des Patrons, seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs zu erhalten, mit Gewalt. Und diesmal noch schlimmer, denn sie erkannten im Sohn den Erben und stachelten sich gegenseitig auf: „Das ist der Erbe. Auf, wir wollen ihn umbringen, damit wir sein Erbe in Besitz nehmen“ (Mt 21,38). Die Hörer des Gleichnisses verurteilen formal dieses Verhalten der Winzer und sagten, daß der Gutsbesitzer den Übeltätern einen schändlichen Tod bereiten werde und den Weinberg anderen Winzern übergeben müsse, die ihm seinen Ernteanteil zur rechten Zeit übergeben werden (vgl. Mt 21,41). Mit diesen Worten nehmen sie ihr eigenes Schicksal vorweg. Wegen ihrer Rebellion und der Ablehnung von Gottes Plan erweisen sie sich der Erwählung durch Gott als unwürdig. Und daher wird ihnen das Reich Gottes weggenommen und einem Volk gegeben werden, das den ihm vom Herrn anvertrauten Weinberg fruchtbar macht (vgl. Mt 21,43). Wegen der Untreue Israels wird der Weinberg den Heidenvölkern anvertraut, und sie sind somit im Vollsinn Glieder des neuen Volkes Gottes.

3. „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden“ (Mt 21,42).

Aus den Worten des Herrn Jesus ergibt sich klar, daß er sich mit dem Sohn des Gutsbesitzers identifiziert, mit dem Erben, der von den bösen Winzern getötet wird, und die „ihn aus dem Weinberg hinauswarfen“ (Mt 21,39). Aber der Tod des Sohnes wird zum schmerzvollen Übergang in das Leben. Der Herr wendet auf sich selbst die Prophetie des Psalms 118,22-23 an: „Ein Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden. Vom HERRN her ist dies gewirkt, ein Wunder in unseren Augen“.

Liebe Brüder und Schwestern, das Wort Gottes richtet sich an uns alle, an jeden einzelnen Christen als Jünger Jesu Christi und als Mitglied der Kirche, des Volkes Gottes. Mit Blick auf jeden einzelnen ist die Lehre des Herrn Jesus klar: wir müssen seinem Wort gehorsam sein, uns stärken lassen von der Gnade des Heiligen Geistes und es in die Tat umsetzen, damit es Frucht bringt. Jesus hat oft davon gesprochen und deutlich gesagt: „An der Frucht also erkennt man den Baum“ (Mt 12,33), denn wer gute Frucht bringt, der ist es, der den Willen Gottvaters vollbringt, wie er es in seinen Geboten ausgedrückt hat (vgl. Mt 22,36-40). Aus uns selbst heraus können wir nicht viel tun, doch haben wir die Kraft des Heiligen Geistes, den der auferstandene Herr über seine Jünger in Fülle ausgießt (vgl. Joh 3,34). An dieser Stelle ist es hilfreich, an die Aufzählung der Früchte des Geistes zu erinnern, wie sie uns der Heilige Paulus überliefert: „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit“ (Gal 5,22-23). Damit also haben das Programm des christlichen Lebens.

Der Christ aber ist nie einfach nur ein Individualist, sondern lebt in einer Gemeinschaft und ist Teil der Katholischen Kirche beziehungsweise einer anderen Kirche oder christlichen Gemeinschaft. Das Christentum hat sich sogleich nach dem Tod und der Auferstehung des Herrn Jesus verbreitet und traf auf fruchtbaren Boden. Leider leben in Europa heute viele Menschen, als ob es Gott nicht gäbe. Sie interessieren sich nicht für Jesus Christus und sein Evangelium und erklären, sie seien religionslos, zumindest im sozialen Sinn, weil sie keiner Glaubensgemeinschaft angehören. Trotz dieses Phänomens gibt es, Gott sei Dank, dennoch lebendige christliche Gemeinschaften, welche die Bedeutung des christlichen Glaubens für das soziale, kulturelle und politische Leben bezeugen. Sind sie zahlenmäßig und geistlich stark genug, um die Flamme des Glaubens in unseren Ländern gegenwärtig und zukünftig am Leuchten zu halten? Bleiben die Christen ein bedeutender Faktor bei der ganzheitlichen Bildung und Erziehung der Bevölkerung? Das Beispiel einiger Regionen, beispielsweise Nordafrika, wo es einmal eine blühende Kirche gegeben hat und es heute nur mehr kleine christliche Gemeinschaften im Meer der mehrheitlich islamischen Länder gibt, lässt uns ernsthaft nach der Zukunft des Christentums in Europa und seiner einzelnen Länder fragen.

Auf die Fürsprache aller Heiligen, vor allem der seligen Jungfrau Maria, der Mutter der Kirche, bitten wir den dreieinen Gott um die Gnade, das Feuer des Glaubens auf unserem europäischen Kontinent wieder zu entfachen, auf daß der christliche Glaube nicht weiter abgelehnt wird, weil er Europa vielfältig geformt hat. Die Menschen sollen offen für Gott bleiben und Jesus Christus in das Ganze ihrer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Systeme aufnehmen, denn er ist der Stein, den Bauleute verworfen haben, der aber zum Eckstein geworden ist (vgl. Mt 21,42). Amen.

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