Predigt von Nuntius Eterovic am 30. Sonntag im Jahreskreis

Berlin, den 29. Oktober 2023

(Ex 45,22-26; Ps 18; 1 Thess 1,5-10; Mt 22,34-40)

„Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ (Mt 22,36).

Liebe Schwestern und Brüder,

Die Lesungen des 30. Sonntages im Jahreskreis ermuntern uns, das wichtigste Gebot nicht nur des Gesetzes, sondern unseres christlichen Glaubens erneut zu entdecken (I). Nach dem Herrn Jesus handelt es sich um das Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten, das in gewisser Weise schon im Alten Testament vorhanden ist (II). Öffnen wir unsere Herzen der Gnade des Heiligen Geistes, um die fundamentale Bedeutung dieses Gebotes für unser christliches Leben gut zu erfassen.

1. „Ich habe Mitleid“ (Ex 22,26).

Der Schluss des Abschnitts der ersten Lesung aus dem Buch Exodus bringt den Inhalt des Textes zur Geltung, denn JHWH, der Gott Israels, hat Mitleid. Die Glieder seines erwählten Volkes müssen sich nach Geboten verhalten, die besondere Rücksicht auf die Schwachen und die Wehrlosen nehmen. Diese sind beispielsweise die Fremden, die Witwen und die Waisen. Der Wille Gottes ist klar: „Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde gewesen“ (Ex 22,20). Besonderen Schutz verdienen die Witwen und Waisen: ihre Misshandlung zieht die göttliche Strafe nach sich (vgl. Ex 22,21-23). Der Glaube an den barmherzigen Gott muss auch Folgen für das moralische Verhalten der Gläubigen haben. Sie dürfen sich nicht wie Wucherer benehmen (vgl. 22,24), sondern müssen besondere Rücksicht auf die Armen nehmen. Das Zurückgeben des Mantels zum Beispiel bezieht sich auf die Ärmsten, die nichts anderes zum Pfand geben können, als ihren Mantel. Schaut man auf das Klima des Mittleren Ostens, so braucht man tagsüber keinen Mantel, doch nachts, wenn die Temperaturen zurückgehen, ist er als Decke notwendig. Daher versteht man die Vorschrift des mosaischen Gesetzes, den Mantel bis zum Sonnenuntergang zurückzugeben.

„Ich habe Mitleid“ (Ex 22,26). Das Wort Gottes stellt die Güte und die Barmherzigkeit Gottes fest, eben das göttliche Mitleid, das als Grundlage das richtige Verhaltens gegenüber dem Nächsten vorgibt, vor allem gegenüber den Hilfsbedürftigen.

2. „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (Mt 22,40).

Die genannten Gebote sind wohlbekannt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken“ (Mt 22,37); „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 33,39). Auf die Frage des Pharisäers: „Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ (Mt 22,36) hat Jesus ohne Zögern geantwortet und als erstes jenen Text aus dem Buch Deuteronomium zitiert, den jeder fromme Jude kennt und täglich wiederholt: „שְׁמַע יִשְׂרָאֵל – S’ma Yisra’el – Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der Herr ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,4-5). Das zweite Gebot stammt sodann aus dem Buch Leviticus: „An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr“ (Lev 19,18). Der Abschnitt des Evangeliums ist kurz, doch durchdrungen von tiefer Bedeutung, was unsere aufmerksame Betrachtung verdient. Jesus handelt in einem ihm feindlich gesinnten Umfeld. Das erfasst man gleich zu Beginn des heutigen Evangeliums, wenn es heißt: „Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn versuchen und fragte ihn“ (Mt 22,35). Allein die Frage ist schwierig, denn die gläubigen Juden haben 613 Vorschriften zu beachten, 248 Gebote und 365 Verbote, wobei man nie einige darüber war, welche die wichtigsten seien. Jesus aber lässt sich nicht verwirren und beginnt keine Diskussion über die Gesetzesvorschriften; nicht einmal die zehn Gebote erwähnt er, welche hochgeschätzt waren, weil JHWH sie dem Mose auf dem Berg Sinai offenbart hatte und ihm „die zwei Tafeln des Bundeszeugnisses, steinerne Tafeln, beschrieben vom Finger Gottes“, übergab (Ex 31,18). In seiner menschlichen wie göttlichen Weisheit geht der Herr Jesus zur Quelle allen göttlichen Handelns, einschließlich der Schöpfung und der Offenbarung des Gesetzes, und das ist die Liebe: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,8.16). Daher gibt es kein größeres Gesetz als das, Gott von ganzem Herzen und ganzer Seele und mit aller Kraft zu lieben. Die Liebe wird geliebt und muss geliebt werden. Gott hat uns zuerst geliebt: „Darin besteht die Liebe: Nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat“ (1 Joh 4,10). Auf Seine Liebe müssen wir mit Liebe antworten: „Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben“ (1 Joh 4,11).

In dieser Logik der Liebe hat Jesus dem ersten auch das zweite Gebot hinzugefügt, auch wenn er danach nicht ausdrücklich gefragt worden war: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,39). Auf diese Weise hat er die Wechselseitigkeit zwischen der Liebe zu Gott und zum Nächsten gezeigt, so dass wir von nur einem Liebesgebot sprechen, das sich auf zwei Weisen ausdrückt. Man kann Gott nicht lieben, ohne den Nächsten zu lieben. Wahrhaft kann man den Nächsten nicht lieben, ohne in gewisser Weise auch Gott zu lieben. Das Wort Jesu ist auch in der Liebe zum Nächsten sehr herausfordernd. Aus dem Evangelium wissen wir, vor allem nach dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, dass jeder Mensch der Nächste ist.

Auf diese Weise bietet uns Jesus eine dynamische Vision von der Liebe Gottes und unserem Verlangen, Ihm immer näher zu kommen. Allein aber mit den menschlichen Kräften ist das unmöglich. Aus diesem Grund schenkt uns Jesus Christus die Kraft des Heiligen Geistes, wie auch seine Gegenwart in den Sakramenten, vor allem in der der Eucharistie, wo er uns seinen Leib und sein Blut darreicht, damit das Herz eines jeden von uns dem Herzen des Herrn Jesus gleichgestaltet werde. Beim letzten Abendmahl hat er uns zu einer noch größeren Liebe ermuntert: „Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe“ (Joh 15,12). Diese Liebe schließt die Feindesliebe ein (vgl. Lk 6,27). Jesus hat uns ein Beispiel dafür gegeben, auch seine Feinde zu lieben, denn er hat „sein Leben (hingegeben) als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45).

Liebe Brüder und Schwestern, vertrauen wir diese Überlegungen der Fürsprache der seligen Jungfrau Maria an, unserer lieben Frau vom Rosenkranz, damit wir, ihrem Beispiel folgend, jeden Tag aufs Neue die große Wahrheit entdecken, dass Gott die Liebe ist und uns liebt. Dabei ermuntert Er uns, Ihn mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und aller Kraft zu lieben und den Nächsten, das heißt jeden Menschen, wie uns selbst. Hierfür schenkt uns Gott die Gnade und die Gabe des Heiligen Geistes, um das größte uns von Jesus Christus gegebene Gebot in die Tat umzusetzen. So setzen wir unermüdlich den Weg der Liebe in unserem persönlichen, familiären und kirchlichen Leben fort. Auf diese Weise erwarten wir „einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt“ (2 Petr 3,13). Amen.

 

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