Predigt von Nuntius Eterovic am 31. Sonntag im Jahreskreis

Berlin, 4. November 2018

(Dtn 6,2-6; Ps 18; Hebr 7,23-28; Mk 12,28-34)

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft“ (Mk 12,30).

Liebe Brüder und Schwestern!

Diese Worte werden an diesem 31. Sonntag im Jahreskreis gleichsam wörtlich dreimal wiederholt. Allein schon daraus können wir schließen, wie wichtig sie sind. Daher fordern sie besondere Aufmerksamkeit. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Alten und dem Neuen Testament mit Blick auf die Liebe zu Gott (I). Jesu Christus fügt ihr die Liebe zum Nächsten an (II). Diese Liebe sei die Orientierung für jeden Christen in seinem persönlichen, familiären und sozialen Leben (III).

1. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft“
(Mk 12,30).

Diese Worte sind dem Gebet entnommen, das jeder fromme Jude dreimal täglich betet, um seinen Glauben und seine Liebe zum einzigen Gott auszudrücken: „Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,4-5). Mit genau diesen Worten über die Liebe zu Gott antwortet Jesus auf die Frage eines Schriftgelehrten: „Welches Gebot ist das erste von allen?“ (Mk 12,28). Der Dialog zwischen dem Pharisäer und Jesus findet in einem einvernehmlichen Klima statt. Der Schriftgelehrte war beeindruckt von der Weisheit, mit der er die Ansichten der Sadduzäer widerlegt hat, welche die Auferstehung der Toten leugneten (vgl. Mk 12,18-27). Er nutzte diese Gelegenheit, um zu klären, welches Gebot im Gesetz das wichtigste sei. Das ist für Juden nicht immer ganz leicht, denn in ihrer Überlieferung gibt es 613 Gesetze und Vorschriften, die sie zu beachten haben. Der Pharisäer war mit der Antwort Jesu zufrieden und bekundete dies öffentlich: „Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt“ (Mk 12,32).

2. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12,31).

Der Liebe zu Gott fügt Jesus Christus die Liebe zum Nächsten bei. Den Vorrang der Liebe zu Gott im obersten Gebot hebt er hervor, doch er unterstreicht: „Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12,31). Die Liebe zum Nächsten ist nicht im Glaubensbekenntnis Israels, dem Sch’ma Jisrael - שְׁמַע יִשְׂרָאֵל, enthalten, aber in den Büchern des Alten Testamentes dennoch gegenwärtig. So zum Beispiel im Buch Levitikus, wo es heißt: „An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der HERR“ (Lev 19,18). Daher versteht der Pharisäer nicht nur die Antwort Jesu, sondern lobt ihn wegen seiner Weisheit: „Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr und es gibt keinen anderen außer ihm
und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer“ (Mk 12,32-33).

Jesus Christus hat den Glauben Israels vertieft. Er hat uns das Geheimnis des dreieinen Gottes offenbart, das heißt den Vater, Sohn und Heiligen Geist, eins in der Natur, drei in den Personen. Darüber hinaus hat er erklärt, daß der Nächste nicht nur eine Person ist, die zum jüdischen Volk gehört, sondern jeder Mensch eines jeden Volkes, einer jeden Sprache und Nation ist es.

3. Die Liebe zu Gott und zum Nächsten gibt dem Leben des Christen Orientierung.

Als der reiche Jüngling fragte, was er tun soll, um das ewige Leben zu erlangen, hat Jesus ihm geantwortet: „Du kennst doch die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen, du sollst keinen Raub begehen; ehre deinen Vater und deine Mutter!“ (Mk 10,19). Die Gebote werden mehrheitlich negativ formuliert – „nicht machen“... „nicht sagen“, denn sie zeigen ihre Gültigkeit unter allen Umständen. Die negative Formulierung könnte jedoch auch zu einer minimalistischen Interpretation in dem Sinne führen, daß es völlig ausreicht, nicht zu töten, nicht zu rauben etc., um den Willen Gottes zu erfüllen und ein geordnetes christliches Leben zu führen. Das Liebesgebot zu Gott und dem Nächsten ist in bejahender Weise formuliert: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben“; Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Daher sind keine minimalistischen Ausflüchte möglich. Wir haben zu all dem ein außergewöhnliches Beispiel in Jesus Christus selbst, der uns in die Tiefe der göttlichen Liebe führt. Er hat Gott, seinen Vater, wahrhaft mit ganzem Herzen, in all seinem Denken und mit all seiner Kraft geliebt. Jesus ist nicht vom Himmel herabgestiegen, um seinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der ihn gesandt hat (vgl. Joh 6,38). Jesus wollte seine Liebe zum Vater offenbaren: „Die Welt soll erkennen, dass ich den Vater liebe und so handle, wie es mir der Vater aufgetragen hat“ (Joh 14,31). Aufgrund dieser Liebe zu Gott, hat er die Menschen geliebt bis zum Ende (vgl. Joh 13,1), indem er sein Leben hingegeben als Lösegeld für viele (vgl. Mt 20,28). Dieses einmalige Opfer erneuern wir in jeder heiligen Eucharistie. Es bleibt das vollendete Opfer in Ewigkeit. Im Brief an die Hebräer haben wir gelesen: „Ein solcher Hohepriester ziemte sich in der Tat für uns: einer, der heilig ist, frei vom Bösen, makellos, abgesondert von den Sündern und erhöht über die Himmel; einer, der es nicht Tag für Tag nötig hat, wie die Hohepriester zuerst für die eigenen Sünden Opfer darzubringen und dann für die des Volkes; denn das hat er ein für allemal getan, als er sich selbst dargebracht hat“ (Hebr 7,26-27).

Wenn wir dem Beispiel Jesu folgen, liebe Schwestern und Brüder, dann sind wir gerufen, Gott und den Nächsten zu lieben. Bei dieser Liebe handelt Gott zuerst, denn er hat uns mit ewiger Liebe je schon geliebt (vgl. Jer 31,3). Daher schreibt der Heilige Johannes: „Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat“ (1 Joh 4,19). Gott hat uns nach seinem Bild geschaffen (vgl. Gen 1,27), so daß unser Herz von selbst offen ist, ihm zu begegnen und auf seine Liebe zu antworten. Diese Liebe ist nicht zeitlich begrenzt: sie beginnt auf dieser Erde, aber dauert fort für immer in der Ewigkeit. Die Liebe Gottes treibt uns an, den Nächsten zu lieben, vor allem jene, die unsere spirituelle und materielle Hilfe nötig haben. Im gestorbenen und auferstandenen Herrn Jesus erreicht diese Liebe eine neue Dimension in der Gemeinschaft der Heiligen und wird eingeübt mittels des Gebetes für die Verstorbenen im Fegefeuer, in der Erwartung der nötigen Reinigung, bevor man in die Nähe Gottes kommen darf, dem dreimal Heiligen. Doch auch vom Himmel her wird dies fortgesetzt durch das fürbittende Gebet für die auf Erden pilgernden Menschen. Und das ist eine vorzügliche Weise der Liebe zum Nächsten.

Vertrauen wir unser Gebet, Gott und den Nächsten zu lieben, der mächtigen Fürsprache der seligen Jungfrau Maria an, der Mutter Jesu und unsere Mutter, die wir seine Schüler sind. Ihr ganzes Leben ist von dieser doppelten Liebe gekennzeichnet: von der Liebe zu Gott, der sie erwählt hat, die Mutter seines eingeborenen Sohnes zu werden. Sie hat den Nächsten geliebt, angefangen bei den Mitgliedern ihrer Familie, ihre Landsleute und den Kreis von Menschen um Jesus, dessen Zahl immer größer wurde, um letztlich alle Glieder Kirche zu umarmen. Möge der Heilige Geist in uns die Gabe der Liebe Jesu zu Gott und zum Nächsten eingießen, damit wir großherzig das wichtigste Gebot des Herrn in die Tat umsetzen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft“ (Mk 12,30) und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12,31). Amen.

Zurück