Predigt von Nuntius Eterovic am 7. Sonntag im Jahreskreis
Apostolische Nuntiatur, 19. Februar 2023
(Lev 19,1-2.17-18; Ps 103; 1 Kor 3,16-23; Mt 5,38-48)
„Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48).
Liebe Brüder und Schwestern!
Wir setzen unsere Betrachtungen zur Bergpredigt nach dem Matthäusevangelium fort. Das verkündete Wort Gottes zeigt zwei weitere Antithesen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, was sich in der Formel ausdrückt: „Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt worden ist. … Ich aber sage euch“ (Mt 5,38-39; 43-44). Die darin enthaltene Wahrheit richtet sich an jeden von uns. Sie ist zugleich trostreich, weil sie den wahren Weg zum Frieden im Herzen des Menschen weist, aber auch seine Beziehungen zum Nächsten. In ihrer Bedeutung ist sie sehr umfassend und benötigt für ihre Anwendung die maßgebliche Hilfe der Gnade des Heiligen Geistes. Das gilt vor allem bei der Liebe zu den Feinden, die der Herr Jesus seinen Jüngern aufträgt. Dieses Liebesgebot war im Alten Testament schon vorbereitet, doch findet es seine Erfüllung in der Offenbarung Jesu Christi.
„Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“ (Lev 19,2).
Auf dem Berg Sinai übergibt JHWH dem Patriarchen Mose die Gebote für sein erwähltes Volk Israel. Sie regeln und festigen in klarer Weise die Beziehungen zwischen Gott und seinem Volk. Weil Gott heilig ist, müssen auch die Glieder des jüdischen Volkes heilig werden. Dies hat JHWH dem Mose deutlich zu verstehen gegeben: „Rede zur ganzen Gemeinde der Israeliten und sag zu ihnen: Seid heilig, denn ich, der HERR, euer Gott, bin heilig“ (Lev 19,2). Diese Grundaussage reicht jedoch nicht aus. In seiner Pädagogik, die sich in seiner großen Güte und Barmherzigkeit ausdrückt, gibt JHWH einige genaue Anweisungen, um dieses Ideal der Heiligkeit zu erreichen, das in der Liebe zum Nächsten seinen Ausdruck findet. Denn die erste Lesung schließt mit der Mahnung: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr“ (Lev 19,18). Es braucht jedoch Zwischenschritte, die zu gehen sind, um jeden Einzelnen seines Volkes lieben zu können. Zunächst ist nötig, sein Herz von Zorn und Groll zu befreien: „Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen“ (Lev 19,17). Und zwei weitere wichtige Schritte gibt es, die Liebe zum Nächsten zu erlangen: „An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen“ (Lev 19,18). Diese Worte verbinden sich direkt mit der ersten Antithese des Herrn Jesus zur Vergeltung im heutigen Evangelium.
„Auge für Auge und Zahn für Zahn“ (Mt 5,38).
Mit diesen Worten ist eine Haltung charakterisiert, die bei Menschen zu einem Fehlschluss an Gewalt führen können, wovon Jesus Christus befreien will. „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“ (Mt 5,38-39). Der heilige Paulus hat als treuer Jünger des Herrn Jesus diese Lehre gleichsam in einer Synthese zusammengefasst: „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute“ (Röm 12,21). Der Herr illustriert seine Lehre mit drei weiteren Bildern: „Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel! Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm! Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab“ (Mt 5,40-42). Die beschriebenen Einstellungen bereiten auf die folgende, noch wichtigere Haltung vor.
„Liebt eure Feinde“ (Mt 5,44).
Damit ist die zweite Antithese gemeint: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,43-44). Der Herr erwartet von Christen eine größere Liebe als von Zöllnern, die nur jene lieben, die sie lieben, oder von den Heiden, die nur ihre Brüder grüßen (vgl. Mt 5,46-47). Der Jünger soll seine Liebe auf alle ausweiten, auch auf die Feinde. Nach Jesus ist die Liebe zum Nächsten allein in der Natur Gottes begründet: „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48). Diese Vollkommenheit drückt sich in der Liebe zu allen Menschen aus, zu allen Kindern Gottes, „denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Wenn wir alle Kinder Gottes sind, so müssen wir also Brüder und Schwestern aller sein und danach trachten, eine universale Geschwisterlichkeit zu schaffen, wozu der Heilige Vater in seiner Enzyklika Fratelli tutti vom 03. Oktober 2020 über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft ermuntert.
Die Lehre des Herrn Jesus richtet sich nicht allein an die einzelne Person, sondern auch an die Gemeinschaften, seien sie klein oder groß, einschließlich der nationalen Gemeinschaften der Staaten. Die Liebe zum Feind muss gelebt werden, jedoch in einer Welt, die gezeichnet ist von der Erbschuld und in der egoistische Interessen herrschen, Ausbeutung, Gewalt, Terrorismus und Krieg. In diesen Zusammenhängen werden die Beziehungen zwischen Menschen und Staaten sehr komplex. So ist der Einsatz von Gewalt zuweilen nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten, um Unschuldige zu verteidigen und größeres Leid zu verhindern. So hat der heilige Papst Johannes Paul II. bei der Belagerung und dem Beschuss von Sarajewo, der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina, durch serbische Kräfte die internationale Gemeinschaft zum humanitären Eingreifen aufgefordert, „nicht in erster Linie eine militärische Intervention, sondern jede Art von Aktion, die auf eine ‚Entwaffnung‘ des Aggressors abzielt“ (Generalaudienz, 12. Januar 1994). Leider ist die Menschheitsgeschichte von Angriffskriegen gekennzeichnet, die darauf abzielen, das Gebiet anderer zu besetzen oder eine ganze Nation zu demütigen oder zu vernichten, wie im Fall des militärischen Überfalls und Einmarsches der Russischen Föderation in Ukraine, der am 24. Februar 2022 begonnen hat. Die Katholische Kirche, die eine Expertin der Humanität ist, hat Prinzipien erarbeitet, die in ihrer Umsetzung den sogenannten Verteidigungskrieg ermöglichen. Der Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) nennt vier Bedingungen zur Rechtfertigung von Verteidigung, wobei diese gleichzeitig gegeben sein müssen, um sittlich vertretbar zu sein:
„Der Schaden, der der Nation oder der Völkergemeinschaft durch den Angreifer zugefügt wird, muss sicher feststehen, schwerwiegend und von Dauer sein.
- Alle anderen Mittel, dem Schaden ein Ende zu machen, müssen sich als undurchführbar oder wirkungslos erwiesen haben.
- Es muss ernsthafte Aussicht auf Erfolg bestehen.
- Der Gebrauch von Waffen darf nicht Schäden und Wirren mit sich bringen, die schlimmer sind als das zu beseitigende Übel. Beim Urteil darüber, ob diese Bedingung erfüllt ist, ist sorgfältig auf die gewaltige Zerstörungskraft der modernen Waffen zu achten.
Dies sind die herkömmlichen Elemente, die in der sogenannten Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ angeführt werden“ (KKK 2309).
Liebe Brüder und Schwestern, auf die Fürsprache der seligsten Jungfrau Maria, der Königin des Friedens, bitten wir den guten und barmherzigen Gott, die Welt vor Kriegen zu bewahren, vor allem vor einem neuen Weltkrieg, der durch den möglichen Einsatz von Atombomben in einer Katastrophe enden wird. Nach Papst Franziskus ist allein der Besitz solcher Bomben unmoralisch. Beten wir weiterhin, die Feindesliebe möge auch die christlichen Soldaten auszeichnen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verteidigen. Der erste und sehr wichtige Schritt ist das Gebet für die Feinde und für die Bekehrung zum Frieden und zur Geschwisterlichkeit. Das ist nicht einfach, aber mit der Gnade des Heiligen Geistes wird es möglich. Es ist auch notwendig, sein Herz von Hass zu befreien, der eine unerträgliche Last für jeden Menschen wird, der vor allem Vergebung, Versöhnung, Frieden, Freundschaft und Liebe braucht. Amen.