Predigt von Nuntius Eterovic am 1. Adventssonntag
Apostolische Nuntiatur, 29. November 2020
(Jes 63,16-17.19.64,1-7; Ps 80; 1 Kor 1,3-10; Mk 13,33-37)
„Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam!“ (Mk 13,36)
Liebe Schwestern und Brüder!
Mit dem heutigen Sonntag beginnen wir die liturgische Zeit des Advents. Es ist ein Weg von vier Sonntagen, die uns auf das Hohe Weihnachtsfest vorbereiten sollen, das Fest der Geburt Jesu Christi in Bethlehem, dem Sohn von Maria und der Gottessohn. In dieser Zeit wollen wir besonders aufmerksam auf das Wort Gottes hören, das uns die Kirche zur Reflexion vorlegt und das uns zeigt, wie wir als Christen diese Gnadenzeit leben sollen.
Die Lesungen dieses ersten Adventssonntags regen dazu an, die Bedeutung der Erwartung auf das Kommen des Herrn zu vertiefen (I). Diese Haltung möge uns sodann zur Umkehr (II) und zur aktiven Wachsamkeit (III) führen.
1. „Hättest du doch den Himmel zerrissen und wärest herabgestiegen“ (Jes 63,19).
Der Prophet Jesaja macht sich zum Deuter der Erfahrung von Einsamkeit seines Volkes, das sich von Gott verlassen fühlt angesichts der großen sozialen und politischen Probleme und einer stets drohenden assyrischen Invasion. Der Prophet, der im achten Jahrhundert vor Christus lebte, richtet folgende Frage an JHWH: „Warum lässt du uns, HERR, von deinen Wegen abirren und machst unser Herz hart, sodass wir dich nicht fürchten?“ (Jes 63,17). Die Erinnerung an die machtvolle Gegenwart Gottes inmitten seines Volkes stärkt das Verlangen nach Seinem zweiten Kommen. So erinnert der Prophet einerseits daran: „Vor dir erbeben die Nationen. Als du Furcht erregende Dinge tatest, die wir nicht erwarteten, stiegst du herab; vor dir erzitterten die Berge. Seit Urzeiten hat man nicht vernommen, hat man nicht gehört“ (Jes 64,1-3) und bittet andererseits: „Kehre zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbbesitz sind“ (Jes 63,17). Die Hoffnung des Propheten gründet sich in der Gewissheit, dass Gott ein Vater ist, der sein Volk nie vergessen wird. Zweimal findet sich im Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja der Ausdruck der Vaterschaft Gottes mit Blick auf Israel zu Beginn der ersten Lesung: „Du, HERR, bist unser Vater, Unser Erlöser von jeher ist dein Name“ (Jes 63,16) und dann am Ende, wo es heißt: „Doch nun, HERR, du bist unser Vater. Wir sind der Ton und du bist unser Töpfer, wir alle sind das Werk deiner Hände“ (Jes 64,7).
Die Worte des Propheten Jesaja scheinen uns sehr nahe. Sie beschreiben auch die Erfahrung der Gläubigen an Gottvater, der große Dinge in der Geschichte des Heils getan hat. Das bezeugt die Bibel und ist die lebendige Tradition Israels und der Kirche. Aber wir fühlen ebenso wie der Prophet, dass dieses Wissen oftmals theoretisch bleibt und nicht genügend unser Leben prägt. Daher haben wir ein neues Eingreifen Gottes in unsere persönliche Geschichte und in die der Gemeinschaft der Kirche nötig. Auf diese Weise wird Gott auch in unserer Welt gegenwärtig, inmitten der Menschen, die oftmals leben, als gäbe es Gott nicht. Aber tief im Menschen gibt es eine gewisse Nostalgie, eine Sehnsucht nach Gott, nach Gerechtigkeit und Liebe, denn jeder Mensch ist nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen (vgl. Gen 1,26-27).
2. „Du kamst dem entgegen, der freudig Gerechtigkeit übt“ (Jes 64,7).
Der Prophet Jesaja ist sich der tatsächlich bestehenden großen Entfernung zwischen Gott und Israel bewusst, was durch das Verhalten der Angehörigen des erwählten Volkes entstanden ist. Sie haben sich vom Glauben und von der Gerechtigkeit entfernt. Denn „niemand ruft deinen Namen an, keiner rafft sich dazu auf, festzuhalten an dir“ (Jes 64,6). Mit Blick auf die Gerechtigkeit erkennt der Prophet: „Siehe, du warst zornig und wir sündigten; bleiben wir künftig auf ihnen, werden wir gerettet werden. Wie ein Unreiner sind wir alle geworden, unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid. Wie Laub sind wir alle verwelkt, unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind“ (Jes 64,4-5). In der Entfernung von Gott, in seiner Abwesenheit, war der Mensch allein der Gunst seiner Missetaten ausgeliefert (vgl. Jes 64,6). In dieser desaströsen Situation sieht der Prophet eine Hoffnung, die von Gottes neuerlicher Initiative ausgeht, die imstande ist, den für die Gnade der Versöhnung und der Umkehr offenen Menschen neues Leben zu schenken. Daher wendet er sich mit leidenschaftlichem Flehen an den Allmächtigen: „Doch nun, HERR, du bist unser Vater. Wir sind der Ton und du bist unser Töpfer, wir alle sind das Werk deiner Hände“ (Jes 64,7).
Die Bedeutung des Glaubens an Gott wiederzuentdecken, bedeutet zugleich das Anerkennen unserer Befindlichkeit als sündige Menschen, die zur Umkehr, das heißt zur Heiligkeit berufen sind. Die Mahnung von JHWH an Mose: „Seid heilig, denn ich, der HERR, euer Gott, bin heilig“ (Lev 19,2) bleibt für alle Zeit und jeden Gläubigen aktuell. Das gilt in besonderer Weise in dieser Zeit des Advents, in der wir uns vorbereiten, Jesus Christus aufzunehmen. Er ist der einzig wahre Heilige, der Gott und Mensch, der in unsere Mitte kommt, um uns zu retten. Er ist unser wahrer Herr und einziger Erlöser.
3. „Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam!“ (Mk 13,36)
Das verkündete Gotteswort zeigt, was wir in dieser Zeit der Erwartung tun sollen. An erster Stelle muss unsere Haltung eine wachsame sein. Im heutigen Evangelium wiederholt der Heilige Markus viermal die Aufforderung „wach zu bleiben“ und „wachsam zu sein“. Begründet wird die erforderliche Wachsamkeit, „denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist“ (Mk 13,33), und „ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen“ (13,35). Es ist wichtig, bei der möglicherweise plötzlichen Rückkehr des Hausherrn nicht schlafend vorgefunden zu werden.
Nach dem Evangelisten soll diese Wachsamkeit aktiv gestaltet werden. Sie betrifft nicht nur den Türhüter (vgl. Mk 13,34), sondern alle (vgl. Mk 13,37). Tatsächlich hat der Hausherr vor dem Aufbruch zur Reise allen seinen Knechten Aufgaben anvertraut, die sie bis zu seiner Rückkehr erfüllen sollen. Diese Worte des Evangelisten Markus erinnern an das Gleichnis von den Talenten, wovon die Evangelisten Matthäus (vgl. Mt 25,14-30) und Lukas (vgl. Lk 19,12-27) berichten. In jedem Fall sind wir alle angehalten, in dieser Zeit des Advents aktiv zu sein. Diese Aktivität meint in erster Linie das Gebet. Es ist nötig, mehr und besser als im Verlauf des Jahres zu beten. Der Prophet Jesaja zeichnet ein negatives Beispiel, indem er mit Bitternis feststellt: „Niemand ruft deinen Namen an“ (Jes 64,6). Andererseits bietet uns der Heilige Paulus ein positives Beispiel, denn er ist für die Gaben des Heiligen Geistes dankbar, die der christlichen Gemeinde in Korinth geschenkt waren: „Ich danke meinem Gott jederzeit euretwegen für die Gnade Gottes, die euch in Christus Jesus geschenkt wurde, dass ihr an allem reich geworden seid in ihm, an aller Rede und aller Erkenntnis“ (1 Kor 1,4-5). Mit dem Gebet ist die Verkündigung des Evangeliums durch Wort und Lebenszeugnis verbunden. Die Freude, auf den Heiland zu warten, darf nicht in unseren Herzen und unseren Gemeinschaften verschlossen bleiben. Diese Wahrheit muss von den Dächern verkündet werden (vgl. Lk 12,1). Das Evangelium ist nämlich auch für unsere Zeit die gute Nachricht. Die Verkündigung muss von Werken der Liebe zugunsten der Hilfsbedürftigen und Armen verbunden werden, denn mit ihnen identifiziert sich das Jesuskind, das für uns und in uns an Weihnachten geboren wird (vgl. Mt 25,31-46).
Liebe Brüder und Schwestern, nehmen wir die Aufforderung des Gotteswortes an und beginnen wir in Glaube, Hoffnung und Liebe den Weg des Advents, um uns gut auf das Weihnachtsfest vorzubereiten. Auf diesem Weg hilft uns insbesondere die Jungfrau Maria, die Hohe Frau der Erwartung. Auf ihre Fürsprache möge Gott in uns die Sehnsucht der Erwartung auf das Kommen seines Eingeborenen Sohnes erwecken und uns gleichzeitig zur Umkehr und zur aktiven Wachsamkeit im Gebet und in Werken der Liebe bereit machen. Amen.