Predigt von Nuntius Eterovic am 15. Sonntag im Jahreskreis

Berlin, 14. Juli 2019

„Dann geh und handle du genauso“ (Lk 10,37).

Liebe Schwestern und Brüder!

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist sehr bekannt. Doch legt es uns die Kirche erneut an Herz, nicht allein, um unsere Erinnerung über einen solch wichtigen Text aufzufrischen, sondern vor allem, um uns zu mahnen, seine Botschaft in die Tat umzusetzen. Mit der Hilfe des Heiligen Geistes betrachten wir gemeinsam die Botschaft, welche der Herr Jesus an jeden von uns, wie auch an unsere Gemeinschaft und die ganze Kirche richtet, indem wir darum beten, sie in unser christliches Leben aufzunehmen und umzusetzen. Verweilen wir kurz beim obersten Gebot (I), wie auch beim Gleichnis des barmherzigen Samariters (II), um einige Schlüsse daraus zu ziehen (III).

1. „Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?“ (Lk 10,26)

Der Teil des Evangeliums ist in der Frageform zwischen einem Gesetzeslehrer und Jesus komponiert. Ohne auf die Einzelheiten einzugehen, ist festzuhalten, daß der erwähnte Gesetzeslehrer nicht in guter Absicht zu Jesus kommt. Zuerst wollte er ihn auf die Probe stellen und rechtfertigt sich sodann für seinen Lebensstil (vgl. Lk 10,25.29). Wichtig aber ist, daß im Gespräch der beiden der Kern des Gesetzes klar aufleuchtet. Er besteht nach der Aussage des Gesetzeslehrers in den Worten: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lk 10,27). Der Gesetzeslehrer hat diesem Text über die Liebe zu Gott aus dem Buch Deuteronomium (vgl. Dtn 6,4-5), das jeder fromme Jude dreimal täglich betet, die Liebe zum Nächsten hinzugefügt, was sich jedoch im Buch Levitikus findet (vgl. Lev 19,18).

Jesus war zufrieden mit der Antwort seines Gesprächspartners und mahnt ihn, diese Lehre in die Tat umzusetzen: „Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben“ (Lk 10,28). Die beiden anderen Synoptiker Markus und Matthäus verwenden ähnliche Worte, um die Bedeutung dieses obersten Gebotes anzuzeigen. Im Unterschied zum Evangelisten Lukas antwortet bei den Synoptikern Jesus auf die Frage eines Schriftgelehrten: „Welches Gebot ist das erste von allen?“ mit folgenden Worten, die wir im heutigen Evangelium aus dem Mund des Gesetzeslehrers hörten: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden“ (Mk 12,29-31).

2. „Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab“ (Lk 10,30).

Im Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter werden vier Personen genannt; zunächst der schwerverletzte Mann, sodann zwei Kultdiener des Jerusalemer Tempels und ein Samariter.

Zu dem Verletzten macht Jesus keine näheren Angaben zu Nationalität, Religion oder Lebensumstände. Mit dieser Person hat Jesus jeden Menschen in schwerer Not und jenseits aller Unterschiede gemeint. Auf diese Weise übersteigt er das zu seiner Zeit weit verbreitete Verständnis darüber, der Nächste sei ein Familienmitglied oder aus der gleichen Gegend oder höchsten noch aus demselben Volk. Nach Jesu Lehre sind alle Menschen von Gott geschaffen, der selbst der göttliche Vater von allen ist. Daher sorgt einer für anderen, weil sie Brüder und Schwestern sind, besonders in den Zeiten von Schwäche, Krankheit, Einsamkeit und Armut.

Der Priester nimmt in der religiösen und sozialen Struktur Israels einen wichtigen Platz ein. Er kannte das Gesetz gut und hätte deswegen dem Verletzten auf der Straße helfen müssen. Doch das Gegenteil geschieht: „Er sah ihn und ging vorüber“ (Lk 10,30). Dasselbe tut ein Levit. Leviten sind im Tempel die niedrigeren Kultdiener. Wir könnten als Gründe für ein solches Verhalten ins Feld führen, daß sie möglicherweise fern und abseits von einem Leichnam bleiben wollten, weil sie fürchteten, unrein zu werden (vgl. Num 19,11-16).

Der Samariter hingegen wird für sein Mitleid gegenüber dem Mann, der halbtot auf der Straße lag, gelobt. Er leistet ihm erste Hilfe, bringt ihn in eine Herberge und sorgt sich um seine Genesung. Die Hilfsbereitschaft des Samariters hatte keinerlei materielles Interesse, im Gegenteil, er hat die Kosten für die Pflege des Kranken übernommen. Aus Güte hat er dem Mann geholfen, aus Liebe. Sein Beispiel ist des Lobes mehr wert, zumal die Juden die Samariter als verabscheuungswürdig ansahen, als unrein und Schismatiker, gleichsam als Heiden. Daher musste die Lehre Jesu das Gewissen seiner jüdischen Zuhörer aufrütteln.

3. „Dann geh und handle du genauso“ (Lk 10,37).

Welche Lehre möchte Jesus mit diesem Gleichnis geben? Als erstes lehrt uns Jesus: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut“ (Mt 7,21). Der Heilige Jakobus schreibt: „Denn wie der Körper ohne den Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot“ (Jak 2,26). Der Gesetzeslehrer kannte das große Gebot wie auch die Lehre der heiligen Bücher gut. Aber das genügte nicht. Jesus Christus hat ihn ermahnt, diese Lehre in die Praxis umzusetzen, sich wie der Samariter zu verhalten. Das gilt auch für uns. Es reicht nicht, die Liebe zu Gott und zum Nächsten mit Worten zu bekennen und dann entgegengesetzt zu handeln, zum Beispiel nicht mit den Nächsten zu sprechen, die möglicherweise sogar Mitglieder der eigenen Familie oder Gemeinschaft sind. Die Worte des Herrn sind eine starke Kritik an den heuchlerischen Gläubigen. Jesus lobt hingegen den Samariter, nicht wegen seines rechten Glaubens, sondern wegen dessen konkreter Liebe zu einem Menschen, der von Räubern schwer verletzt worden war. Diese Haltung öffnet die Horizonte der Liebe Gottes zu allen Personen guten Willen, auch zu den Nichtgetauften oder denen in den anderen Religionen: mittels Liebe zum Nächsten nähern sie sich der barmherzigen Liebe Gottes an.

An zweiter Stelle danken wir Gott, weil die Kirche in Aufmerksamkeit auf die Lehre und das Beispiel Jesu immer viele Initiativen zur Hilfe am Nächsten gefördert hat, so beispielsweise durch die Caritas. Daneben wurden viele Einrichtungen geschaffen, um Hilfsbedürftige zu pflegen: die Krankenhäuser, Ambulanzen, Leprastationen, Altenheime, Waisenhäuser oder Einrichtungen für Jugendliche, die drogenabhängig geworden sind etc.

Wir dürfen das Helfen der Hilfsbedürftigen nicht an die kirchlichen Einrichtungen delegieren. Als Drittes lädt das Wort Gottes uns auch persönlich dazu ein, den Menschen in Schwierigkeiten der Seele und des Leibes konkret zu helfen. Der barmherzige Samariter hat einer konkreten Person geholfen, den ihm die Vorsehung im wahren Sinn des Wortes in den Weg gelegt hat. Das braucht Aufmerksamkeit auf die Menschen, die uns in unserem Leben umgeben oder uns begegnen. Wir sollten bei den uns nahen Menschen beginnen: Zeit für sie haben, zuhören anstatt Ratschläge zu erteilen. Zuweilen ist es nötig, ihnen zu helfen und sie zu schützen, auch wenn dies uns in Schwierigkeiten bringt oder zu Missverständnissen führt. Das Gericht Gott müssen wir jedoch mehr fürchten, als das der Menschen. Der gute und barmherzige Gott ist ein gerechter Richter, der alles sieht und die Wahrheit kennt und uns für unser Mitgefühl und die Unterstützung der Notleidenden entlohnen wird.

Liebe Brüder und Schwestern, als Christen sind wir gehalten, unsere Liebe jedem Menschen zu erweisen, der Hilfe nötig hat. Für die, die fern von uns leben, kann das darin bestehen, für sie zu beten, mit ihren schwierigen Situationen mitzufühlen, sie finanziell zu unterstützen, wenn wir den Hilfswerken und den Missionswerken oder Sozialstationen spenden. Bei den Menschen, die wir kennen und denen wir begegnen, sind wir gerufen, uns je nach unseren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen persönlich einzusetzen. Die Liebe zu Gott wird der Antrieb für unsere konkrete Liebe zum Nächsten.

Die selige Jungfrau Maria hat ihrer Cousine Elisabeth geholfen, als sie schwanger wurde, und sie blieb drei Monate bei ihr (vgl. Lk 1,56). Außer ihrem Beispiel tritt sie, die „voll der Gnade“ ist (Lk 1,28), für uns ein, damit unsere Liebe zu Gott gestärkt werde und wir den Nächsten lieben können, indem wir die Aufforderung Jesu in die Tat umsetzen: „Dann geh und handle du genauso“ (Lk 10,37). Amen.

 

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