Predigt von Nuntius Eterovic am 24. Sonntag im Jahreskreis
Apostolische Nuntiatur, 13. September 2020
(Sir 27,30-28,7; Ps 103; Röm 14,7-9; Mt 18,11-35)
„Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt?“ (Mt 18,21).
Liebe Schwestern und Brüder!
Die Frage des Apostels Petrus gibt dem Herrn Jesus die Gelegenheit, die Größe der barmherzigen Liebe Gottvaters aufzuzeigen. Sie wird im Übrigen in der Person und den Werken seines Eingeborenen Sohnes Jesus Christus reflektiert. Simon Petrus hatte die Botschaft von der Barmherzigkeit erfasst, die Jesus verkündigt und welche schon im Alten Testament vorgebildet ist. Nach seiner Auffassung war es schon sehr großzügig, dem Bruder siebenmal zu vergeben (vgl. Mt 18,21). Die Antwort Jesu jedoch übersteigt seine Erwartung, wie auch jene der übrigen Apostel. Sie ist auch für uns Anlass zum Staunen und zugleich zur Danksagung. Tatsächlich nämlich hat der Herr mit Blick auf die Vergebung keine Grenze gesetzt, wenn er antwortet: „Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal“ (Mt 18,22). Das bedeutet: Ja, Gott vergibt dem Menschen immer, der sich an ihn mit zerknirschtem Herzen wendet. Bereit für die Gnade des Heiligen Geistes wollen wir gemeinsam die Bedeutung des Gotteswortes bedenken, wie groß nämlich Gott im Verzeihen ist (I) und wie notwendig es daher für den Menschen ist, seinem Nächsten zu verzeihen, wenn er ihn beleidigt haben sollte (II).
1. Die Barmherzigkeit Gottes
Jesus Christus verkündet mit seiner Botschaft und seinem Leben die Barmherzigkeit Gottes, die keine Grenzen kennt. Nur der Mensch allein kann diese Barmherzigkeit begrenzen, indem er sich und sein Herz Gott gegenüber verschließt und dessen barmherzige Liebe nicht annimmt. Die Wahrheit des barmherzigen Gottes ist schon im Alten Testament bekannt. JHWH offenbart sich dem Mose als „barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue“ (Ex 34,6). Über die Größe der göttlichen Barmherzigkeit sagt der Psalmist: „Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, so mächtig ist seine Huld über denen, die ihn fürchten“ (Ps 103,11). Jesus Christus hat dieses Verständnis nicht nur bestärkt, sondern es unerwartet bis zum Äußersten verwirklicht. Er selbst vergleicht sich mit dem guten Hirten, der sein Leben für die Schafe hingibt. Und er versichert: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13). Er hat uns geliebt bis zum Ende (vgl. Joh 13,1) und sein Leben für uns und zu unserem Heil geopfert. Auch im heutigen Evangelium unterstreicht Jesus die Größe der Barmherzigkeit Gottes. Er vergleicht sie mit einem König, der seinem Knecht vergibt und ihm die Schuld von zehntausend Talenten erlässt. Das ist eine gewaltige Summe und würde heute Millionen von Euro betragen. Der König war den Bitten des Knechtes gegenüber empfänglich und hat ihm die große Schuld geschenkt (vgl. Mt 18,27). Die Gewissheit, daß Gott gut und barmherzig ist, bereit, unsere Sünde und Schuld zu vergeben, erfüllt uns mit großer Freude und fortdauernder Hoffnung. Voller Dankbarkeit wiederholen wir mit der ganzen Kirche den Kehrvers des Antwortpsalms: „Der HERR ist barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Huld“ (Ps 103,8) und seine Barmherzigkeit „währt immer und ewig“ (Ps 103,17).
2. Des Menschen Antwort
Das Wort Gottes lehrt uns, daß der Mensch auf die Barmherzigkeit Gottes mit Barmherzigkeit antworten soll, indem er dem Nächsten vergibt, wenn dieser sich gegen ihn versündigt hat. Im zweiten Teil der Erzählung Jesu finden wir hingegen ein negatives Beispiel mit tragischen Konsequenzen. Der Knecht, der vom König wegen seiner riesigen Schulden Vergebung empfing, hatte kein Erbarmen mit einem Mitknecht, der ihm einhundert Denare schuldete. „Er packte ihn, würgte ihn und sagte: Bezahl, was du schuldig bist!“ (Mt 18,28). Die fragliche Summe war groß und entsprach etwa dem Lohn für hundert Tage Arbeit. Doch im Vergleich zur Summe, die dem ersten Knecht erlassen worden war, handelte es sich um einen sehr viel kleineren Betrag. Einige Exegeten sagen, diese Summe war 600.000mal kleiner als jene. Die anderen Knechte waren empört über das Geschehen und haben es dem König berichtet. Er machte dem bösen Knecht schwere Vorwürfe und mit harten Worten sagte er: „Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich angefleht hast. Hättest nicht auch du mit deinem Mitknecht Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?“ (Mt 18,32-33). Der König nahm seine vorherzige Entscheidung zurück und übergab den Knecht den Peinigern, „bis er die ganze Schuld bezahlt habe“ (Mt 18,34). Da es sich um eine enorme Summe handelte, dürfte der böse Knecht dazu verdammt gewesen sein, den Rest seines Lebens damit zu verbringen, seine Schulden abzutragen.
Die Zusammenfassung Jesu betrifft uns alle: „Ebenso wird mein himmlischer Vater euch behandeln, wenn nicht jeder seinem Bruder von Herzen vergibt“ (Mt 18,35). Die Barmherzigkeit, die Vergebung mit seinen zwei Dimensionen, bilden den integralen Bestandteil der Lehre Jesu. Es genügt, an seine Ermahnung zu erinnern: „Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden“ (Lk 6,37). Oder denken wir an das Vaterunser, dem christlichen Gebet schlechthin, wo wir beten, wie Jesus uns gelehrt hat: „Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben“ (Mt 6,12).
Das Verzeihen ist die große Gnade Gottes. Ohne Vergebung, die von Gott kommt und den Menschen betrifft, müsste der Mensch in erdrückender Knechtschaft leben. Er wäre von fortdauerndem Groll gekennzeichnet, von ständiger Vergeltung im persönlichen, familiären und sozialen Umfeld und somit von Gewalt und Kriegen. Die Vergebung durchbricht den Teufelskreis von Zorn, Aggressivität und Vergeltung. So wird das Herz des Menschen von der Last der Feindschaft befreit und offen für die Vergebung und die Liebe zu Gott und dem Nächsten. Gott will vom Menschen die Vergebung. Aber dies ist so wesentlich wie schwierig und eigentlich ohne die besondere Gnade Gottes unmöglich, der die Person erleuchtet und Kraft gibt, von Herzen zu verzeihen, was zuweilen heroische Züge annehmen kann.
Bei diesem Prozess der Umkehr des Herzen spielt der Mensch eine gewichtige Rolle. Gott ist bereit zu verzeihen, doch dieses Verzeihen geschieht über das Herz des Menschen. Wenn des Menschen Herz voll von Groll ist, dann findet die Gnade Gottes keinen Raum, heilsam zu wirken, und bleibt unwirksam. Es ist gleichsam absurd, daß der allmächtige Gott sich in seinem Handeln derart von den Haltungen und dem Verhalten der Menschen abhängig macht. Es scheint, daß das Maß seiner Barmherzigkeit von jenem des Menschen abhängt, als Ergebnis der erwähnten Bitte: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Diese Vorstellung setzt eine optimistische Vision vom Menschen, auch von der des Sünders, der er auch ist, voraus. Der Mensch ist nach Bild und Gleichnis Gottes geschaffen (vgl. Gen 1,26). Früher oder später wird er der Gnade des Heiligen Geistes erlauben, die Spirale des Hasses in seinem Herzen zu zerstören und sich der Vergebung und damit Gott zu öffnen, der die Quelle der Güte und Barmherzigkeit ist. Auch in diesem Fall können wir die Worte des Herrn Jesus anwenden: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten“ (Mt 7,11). Wenn also wir, die wir Sünder sind, dem Nächsten vergeben können, wenn auch in unvollkommener Weise, genügt diese Haltung, um von Gott die Vergebung all unserer Schuld und Sünden zu erhalten.
Liebe Brüder und Schwestern, auf die Fürsprache der seligen Jungfrau Maria, der Mutter Jesu und unsere Mutter, erflehen wir die Gnade der Vergebung, damit wir mit reinem Herzen den dreieinen Gott preisen können. Wir tun dies in der heiligen Kirche Gottes, die zugleich eine Gemeinschaft sündiger Menschen ist, die jedoch zur Heiligkeit gerufen ist. Der menschliche Weg zur Heiligkeit schließt Vergebung und Barmherzigkeit ein. Sie sind so etwas wie der Widerschein der Barmherzigkeit Gottes, die darin besteht, Verzeihung zu gewähren, nicht „bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal“ (Mt 18,22). Amen.