Predigt von Nuntius Eterovic am 6. Sonntag im Jahreskreis

Apostolische Nuntiatur, 12. Februar 2023

(Sir 15,15-20; Ps 119; 1 Kor 2,6-10; Mt 5,17-37)

„Ich bin nicht gekommen, um (das Gesetz und die Propheten) aufzuheben, sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,17).

Liebe Schwestern und Brüder,

Bei den Überlegungen zur Bergpredigt, die uns als Wort Gottes verkündet worden ist, verweilen wir in besonderer Weise bei unserer Beziehung zu dem Gesetz, das Gott den Menschen für ein gelingendes Leben in dieser Welt gegeben und als Weg zum Heil, das in der Ewigkeit erreicht wird, erschlossen hat. Es fällt uns sogleich der Unterschied in Wort und Inhalt zwischen den Vorschriften des Alten und des Neuen Testamentes auf, der in der Wendung ausgedrückt wird: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist ….. Ich aber sage euch“ (Mt 5,21.22ff). Das spiegelt die Offenbarung Gottes in seinem Eingeborenen Sohn Jesus Christus und in der Liebe des Heiligen Geistes wider. Der Geist, den wir in der Taufe empfangen haben, hilft uns nicht nur, in diese Wahrheit einzudringen, sondern gibt uns die Gnade, sie gut leben zu können und jene Konditionen zu überwinden, die den gebrechlichen und sündigen Menschen eigen sind. Sich zum Gesetz zu verhalten, setzt die Freiheit voraus, das große Geschenk Gottes an die Menschen. Hiervon spricht die erste Lesung aus dem Buch Jesus Sirach.

„Wenn du willst, wirst du die Gebote bewahren und die Treue, um wohlgefällig zu handeln“ (Sir 15,15).

Der Mensch ist frei in der Entscheidung, die Gebote zu achten, die ihm von Gott übermittelt wurden. Der alttestamentliche Autor denkt an die zehn Gebote, die JHWH dem großen Patriarchen Mose übergeben hat (vgl. Ex 20,1-17). Angesichts dieses Gesetzes bleibt der Mensch frei. Freiheit charakterisiert den Willen des Menschen, den Gott respektiert, selbst wenn er zum Bösen gebraucht wird. Gott hat dem Menschen „Feuer und Wasser vorgelegt“ (Sir 15,16), und er kann seine Hand nach dem ausstrecken, wonach ihm verlangt. Die Freiheit des Menschen ist mit folgenden Worten klar umschrieben: „Vor den Menschen liegen Leben und Tod, was immer ihm gefällt, wird ihm gegeben“ (Sir 15,17). In seiner großen Weisheit kennt der Allmächtige den Menschen und sein Handeln durch und durch. Die guten Werke des Menschen sind Gott wohlgefällig, doch er erträgt auch jene schlechten, die sich gegen den ursprünglichen Schöpfungsplan richten. Das kann man aus der negativ formulierten Aussage schließen: Der Herr „befahl keinem, gottlos zu sein, und er erlaubte keinem zu sündigen“ (Sir 5,20). In seiner großen Güte und Barmherzigkeit erwartet Gott die Umkehr des Menschen, die in der freien Annahme Seines Gesetzes besteht, was die Entdeckung bedeutet, dass die wahre Freiheit des Menschen in der überzeugten und willentlichen Erfüllung des göttlichen Gebotes besteht, was schließlich die Liebe zu Gott und den Nächsten umfasst.

„Ich bin nicht gekommen, um (das Gesetz und die Propheten) aufzuheben, sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,17).

Gesetz und Propheten sind jene beiden Säulen der Bibel, die mit Erweiterungen das ganze Alte Testament ausmachen. Der Herr Jesus führt uns zu einem tieferen Verständnis der Freiheit des Menschen mit Blick auf das Gesetz, das Er von einem inneren Gesichtspunkt her sieht, nämlich vom Herzen des Menschen her. Diese neue Sicht erlaubt die Erfüllung des Gesetzes, das die Beachtung aller seiner Vorschriften verlangt, bis hin zu jedem Iota, was der kleinste der Buchstaben des hebräischen Alphabetes ist, dessen Vorzeichen die Striche oder Dehnungen anzeigt, die ähnliche Buchstaben unterscheiden. Die Erfüllung des Gesetzes durch die Jünger Jesu muss, um in das Himmelreich zu gelangen, die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer übertreffen (vgl. Mt 15,20). Diese Dynamik lässt sich in der Dichotomie erfassen, wenn es heißt: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist ... Ich aber sage euch“ (Mt 5,21.22). Im Abschnitt des heutigen Evangeliums des heiligen Matthäus kommt diese Wendung viermal vor. Jedes Mal wird anhand von Beispielen auf konkrete Weise seine Bedeutung gezeigt.

Es beginnt mit dem Ausspruch des Herrn Jesus: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemanden tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein“ (Mt 5,21-22). Der Entschluss zum Töten eines Nächsten wird im Herzen gefasst, aus einem Gefühl des Hasses heraus und der Bereitschaft zur Gewalt dem Nächsten gegenüber, was kontrolliert werden muss, mehr noch, was ausgetilgt werden soll. Wir wissen, dass man einen Menschen auch durch Worte töten kann, indem man Verleumdungen über ihn verbreitet und so seinen guten Ruf zerstört. Der Herr Jesus unterstreicht die Bedeutung des Einklangs unter den Menschen, auch um die kultische Anbetung Gottes wohlgefällig zu machen, wenn er sagt: „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe“ (Mt 5,23-24). Das Wort Gottes ermahnt uns zur Kontrolle unserer Worte, nicht über andere zu sprechen, über sie zu lästern und sich bewußt zu bleiben, dass die Zunge zu töten vermag: „Viele sind gefallen durch ein scharfes Schwert, noch mehr sind gefallen durch die Zunge“ (Sir 28,18).

Der Evangelist legt sodann ein zweites Wort Jesu vor: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen“ (Mt 5,27-28). Auch der Ehebruch beginnt im Herzen des sündigen Menschen; er geschieht, wenn der Mensch den Versuchungen erliegt und egoistischen Gefühlen Raum gibt. Nach dem Wort Gottes aber sollte der Mensch die Gelegenheit zur Sünde ausrotten, er soll sich symbolisch lieber die Augen ausreißen oder die Hand abhaken, als „zum Bösen verführt werden“ (Mt 5,29.30), was bedeutet, gegen die Sünde sogleich vom Beginn ihrer Entstehung an zu kämpfen. Zur Aussage über den Ehebruch kann man auch das folgende Wort hinzufügen: „Ferner ist gesagt worden: Wer seine Frau aus der Ehe entlässt, muss ihr eine Scheidungsurkunde geben. Ich aber sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, liefert sie dem Ehebruch aus; und wer eine Frau heiratet, die aus der Ehe entlassen worden ist, begeht Ehebruch“ (Mt 5,31-32). Um diesen Satz richtig zu verstehen muss man ihn mit dem Wort des Herrn Jesus verbinden, wenn er sagt: „Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer sie am Anfang männlich und weiblich erschaffen hat und dass er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“ (Mt 19,3-6). Mit diesen Worten hat der Herr die Unauflöslichkeit des Ehesakramentes bekräftigt.

Ein viertes Mal lehrt Jesus: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht“ (Mt 5,33-34). Der Sinn dieser Lehre Jesu findet sich in seinen Worten: „Eure Rede sei: Ja ja, nein nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen“ (Mt 5,37). Wer ehrlich und wahrhaftig ist, braucht keinen Eid oder gar Meineid, um glaubwürdig zu sein. Sein ehrenhaftes Leben und sein maßgebliches Wort geben Zeugnis für ihn.

Liebe Brüder und Schwestern, der Herr Jesus zeigt uns nicht nur, wie nötig es ist, das Gesetz und die Propheten zu erfüllen, sondern er schenkt uns auch die nötige Gnade, dies zu vollbringen. Ohne die Gabe des Heiligen Geistes sind wir begrenzten, gebrechlichen und sündigen Menschen nicht imstande, dieses Ideal des christlichen Lebens zu erreichen. In der Kraft des Heiligen Geistes hingegen verstehen wir gut, dass die wahre Freiheit des Menschen in der freien Wahl des Guten liegt, das in den Geboten aufgezeigt wird. Vertrauen wir unsere Überlegungen der Fürsprache der seligen Jungfrau Maria an, der Mutter der Kirche, damit wir, dem dreieinen Gott sei Dank, nicht aufhören, Ihn für das große Geschenk der Freiheit zu preisen, nicht nur theoretisch, sondern vor allem in der Umsetzung in die Tat, wie es uns der Herr Jesus lehrt, der nicht gekommen ist, um aufzuheben, sondern um das Gesetz und die Propheten zu erfüllen. Amen.

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